TSN als Baustein für Industrie 4.0
Arno Stock, Renesas Electronics Corp.
Time Sensitive Networking (TSN) hat sich fest im Vokabular der Automatisierungsbranche etabliert. Hersteller, Konsortien und TSN-Testbeds stellen bereits Demonstratoren vor, die konkrete Anwendungen dieser Technologie mit heute schon verfügbaren Komponenten zeigen.
Eine Profinet PLC mit IO-Link-Master-Anbindung über TSN basierend auf einem aktuellen Chip demonstriert beispielsweise die Renesas Electronics Corp. Je nach den zu erfüllenden Anforderungen ist die Umsetzung solcher Lösungen auf Grundlage verfügbarer Hardware
relativ einfach. So lassen sich Netzwerkprotokolle wie Profinet oder Ethernet/IP lediglich durch Erweiterung des Ethernet Layer 2 und ohne Eingriffe in die höheren Protokollschichten TSN-fähig machen. Hier stellt die zeitgesteuerte Übertragung („Scheduled Traffic“) die gängige Methode dar, weil dieser Mechanismus schon hinreichend in der Industrieautomatisierung erprobt und verbreitet ist. Bekannte Systeme wie EtherCAT, Profinet IRT oder SERCOS III setzen dieses Verfahren, das im Zuge von TSN verallgemeinert wurde, seit Jahren erfolgreich ein.

Horizontale und vertikale Standards
Doch im Portfolio der Automatisierer sind TSN-basierende Lösungen noch nicht wirklich angekommen. Der Grund liegt in der momentanen Diskrepanz zwischen den eigentlichen Zielen der TSN-Einführung und dem momentan erreichten Stand.
TSN ist ein wichtiger Baustein zur Erfüllung der für Industrie 4.0 gesetzten Ziele. Die Technologie hat das Potenzial, die Grenzen, die zwischen den proprietären Echtzeitlösungen bestehen, durch einen Standard aufzuheben. Damit wird der Datenaustausch innerhalb einzelner Bestandteile einer Produktionsstätte einfacher und transparenter.
Verschiedene Bereiche der Anlage können über eine einheitliche Netzwerkinfrastruktur direkt miteinander Informationen austauschen, ohne dass Gateways oder anderweitige Anpassungen notwendig sind (horizontale Kommunikation). Als Beispiel können Maschinen unterschiedlicher Hersteller flexibel zu Produktionsstraßen kombiniert oder zwischen verschiedenen Bereichen ausgetauscht werden, ohne auf die untereinander inkompatiblen Kommunikationsstandards Rücksicht nehmen zu müssen. Außerdem lässt sich die vollständige Durchgängigkeit des Informationsflusses in vertikaler Richtung realisieren – „Sensor to the Cloud“, wodurch neue Geschäftsmodelle möglich werden.

Automatisierungspyramide und Durchgängigkeit
Ein weiteres Ziel ist die Standardisierung der Automatisierungsgeräte und ihrer Bestandteile, wodurch sich die Kosten für Entwicklung, Herstellung und Ersatzteilbevorratung sowie in der Wartung der Produktionsstätte senken lassen. Fachpersonal in Konstruktion und Instandhaltung wird flexibler einsetzbar, Lagerhaltung für Ersatzteile beschränkt sich künftig auf einen Gerätetyp, und vereinheitlichte Hardwarekomponenten werden in den daraus folgenden höheren Stückzahlen preisgünstiger.
Dieses abstrakte Ziel lässt mehrere Lösungswege zu, die sich insbesondere in der untersten Ebene der Automatisierungspyramide unterscheiden. Grundsätzlich kann man zwischen Koexistenz und Kompatibilität unterscheiden. Koexistenz oder auch Konvergenz bedeutet, dass Geräte sich ein gemeinsames Netzwerksegment teilen und darüber kommunizieren können, ohne dass sie sich gegenseitig beeinträchtigen. Kompatibilität beutet darüber hinaus, dass sich die Geräte auch untereinander „verstehen“, das heißt, miteinander Informationen austauschen können.
Die heutzutage verfügbaren echtzeitfähigen Netzwerke sind überwiegend weder koexistent noch kompatibel zueinander. TSN als einheitlicher Netzwerkstandard kann die Forderung nach Koexistenz erfüllen. Die IEEE entwickelt allerdings nur horizontale Netzwerkstandards, die Basisfunktionen beschreiben. Beispielsweise sind zum „Scheduled Traffic“ (IEEE802.1Qbv-2015, jetzt in IEEE802.1Q-2018 übernommen) nur Prinzip und Mechanismen festgelegt, über die sich Sendezeitpunkte der Ethernet-Pakete steuern lassen.
Eine konkrete Anwendung erfordert jedoch spezifische Festlegungen wie die Zykluszeit, die konkrete Abfolge der Zeitintervalle, die Definition und Behandlung der Prioritätsklassen oder die Art und Weise der Netzwerkverwaltung. Dies stellt das anwendungsspezifische Profil oder den vertikalen Standard dar. Ohne diese Übereinkunft würden verschiedene Geräte, die die TSN-Mechanismen unterschiedlich anwenden, trotzdem keine Koexistenz in einem heterogenen Netzwerk ermöglichen.
Die gemeinsame Arbeitsgruppe IEEE/IEC60802 hat den Auftrag, ein einheitliches TSN-Profil für industrielle Ethernet-Anwendungen zu definieren und dabei auftretende Lücken in den IEEE-Spezifikationen zu schließen. Der Erfolg dieser Arbeitsgruppe, zu der viele Experten und Konsortien Beiträge liefern, wird die Interoperabilität zukünftiger industrieller TSN-Anwendungen einen entscheidenden Schritt voran bringen.
Der zweite Aspekt der Ziele für Industrie 4.0 betrifft die Kompatibilität von Automatisierungsgeräten. Hierzu sind zusätzlich zur Koexistenz im gleichen Netzwerk auch eine gemeinsame Sprache und eine gleichartige Verwaltung und Planung der Automatisierungsanwendung („Engineering“) erforderlich. Die gemeinsame Sprache ist bereits gefunden. Es handelt sich um OPC-UA pub/sub, die echtzeitfähige Erweiterung des etablierten OPC-UA Standards.
Die gemeinsame Sprache ermöglicht Echtzeitkommunikation auf dem Niveau etablierter Protokolle mit Zykluszeiten unter einer Millisekunde wie Profinet oder Ethernet/IP. OPC-UA pub/sub verwendet Multicast-Frames, die ein Publisher zyklisch an einen oder mehrere Subscriber verschickt. Damit ist die Vernetzung bis hinab auf die Maschinenebene (Controller zu Controller) lösbar.

Lösungsvarianten für die Feldebene
Auf der untersten Ebene der Automatisierungspyramide, der Feldebene innerhalb einer Maschine oder Produktionseinheit, sind mitunter kleinere Zykluszeiten unter 100 Mikrosekunden gefordert. In seiner klassischen Form lassen sich mit dem Publisher-Subscriber-Verfahren keine längeren Geräteketten mit diesen Zykluszeiten realisieren. In der Praxis bieten sich drei Lösungsmöglichkeiten an:
● Die PLC auf der untersten Steuerungsebene kommuniziert nur mit den höheren Schichten über das TSN-Netzwerk und OPC-UA-pub/sub-Protokoll, damit die Interoperabilität zwischen Anlagenteilen vereinfacht wird.
● Man vermeidet die heute übliche Linienstruktur und wendet sich verstärkt flacheren Hierarchien zu, um die Anzahl zu passierender Switches von der PLC zum entferntesten Feldgerät zu verringern.
● Die Feldgeräte verwenden für OPC-UA pub/sub die bekannten Mechanismen wie Summenrahmen und Datenaustausch, um sehr kurze Zykluszeiten zu unterstützen. Ob dieses Verfahren innerhalb der momentan diskutierten Standards widerspruchsfrei anwendbar ist, muss sich zeigen. Die Ablösung eines proprietären Standards durch einen neuen mit vergleichbarer Leistungsfähigkeit wäre schwer zu begründen.
Welche technische Lösung sich auch durchsetzen wird, die Netzwerkverwaltung und das Engineering bleiben in jedem Fall eine große Herausforderung. Mit den jetzt gestarteten Aktivitäten sind die Chancen auf die erhoffte, für Industrie 4.0 taugliche Gesamtlösung stark gestiegen.
Foto links:
Manfred Otawa, VDMA Verlag GmbH
