Produktion und Beschaffung auf dem Weg zu Industrie 4.0
Carsten Schmidt, myOpenFactory Software
Jan Meißner, RWTH Aachen Campus
Die Prozesse in Produktion und Logistik werden von Informations- und Kommuni- kationstechnologien durchdrungen. Neue Möglichkeiten der Digitalisierung und Vernetzung von Objekten sowie Systemen bieten einerseits das Potenzial, etablierte Produktions- und Logistikkonzepte neu zu denken. Andererseits existieren seit Jahrzehnten bewährte Konzepte wie Electronic-Data-Interchange (EDI), deren Nutzung den ersten Schritt auf dem Weg zum digital vernetzten Unternehmen im Zeitalter von Industrie 4.0 bildet.
Technologisch ist bereits vieles möglich. jedoch fehlt es wie so oft an der konkreten Umsetzung. Dies liegt allerdings weniger an der Trägheit der Beteiligten, sondern vielmehr an der Komplexität der industriellen Anwendungsfälle. Während ein Smartphone mit sechs Sensoren für die Interpretation seiner Umwelt auskommt, verfügt ein nur mäßig komplexer Antrieb bereits über 2000 Messpunkte, deren Zustandswerte auf unterschiedliche Weise interpretiert werden können. Dieses kleine Beispiel verdeutlicht, dass vor der umfänglichen Digitalisierung und Vernetzung industrieller Prozesse zunächst ein grobes Bild entstehen muss, wo die Reise „Industrie 4.0“ eigentlich hinführt und welche Etappenziele auf diesem Weg zu erreichen sind.
Ausgangspunkt für die Reise „Industrie 4.0“ sind die Errungenschaften der Digitalisierung. Hier wurden bereits klassische oder innovative (Erfassungs-) Technologien dazu genutzt, um automatisiert (also ohne manuelle Rückmeldungen) ein digitales Abbild der relevanten Daten im Sinne eines transparenten Produktionssystems zu erzeugen. Auf Grundlage dieser Datenbasis können mittels geeigneter Data-Analytics-Verfahren Muster erkannt und zukünftige Ereignisse vorhergesagt werden (prognosefähiges Produktionssystem).

Wertschöpfungssysteme werden immer stärker von Informations- und Kommunikationslösungen durchdrungen
Gleichzeitig bedeuten diese Transparenz und Prognosefähigkeit eine Abkehr von der mittelwertbasierenden Planung mit statischen Parametern. Vielmehr erlaubt das regelungsfähige Produktionssystem einen kontinuierlichen Soll-Ist-Vergleich im Sinn einer echten Regelung, die den identifizierten und antizipierten Abweichungen gezielt entgegenwirkt. Während die Sollwerte zur Regelung der Prozesse zunächst statisch einzustellen sind, erlaubt das selbstlernende Produktionssystem das eigenständige Adaptieren der Sollwerte beispielsweise aufgrund externer Einflussgrößen.
Automatisierte Transparenz in der Beschaffung
Einer der ersten Schritte auf dem Weg zu Industrie 4.0 ist die Nutzung digitaler Technologien mit dem Ziel, Transparenz im Produktionssystem fehlerfrei und automatisch, also ohne manuellen Eingriff, zu erzeugen. Ein fast schon traditionelles Beispiel ist die Nutzung von elektronischem Datenaustausch in der Beschaffung.
Wird eine Bestellung per EDI an den Lieferanten versandt, so können die eingehenden Auftragsbestätigungen (Lieferavis, Rechnung) automatisch gegen die Bestellung validiert werden. Ohne relevante Abweichungen wird die Auftragsbestätigung im ERP-System verbucht und gegebenenfalls im Dokumentenmanagementsystem archiviert. Der Einkäufer wird vom manuellen Prüf- und Erfassungsaufwand vollständig entlastet und seine Aufmerksamkeit auf relevante Termin-, Mengen- oder Preisabweichungen fokussiert.
Interessanterweise mangelt es im EDIKontext nicht an Standards, im Gegenteil: Es gibt viel zu viele. So wurde bereits im Jahr 1986 der erste Edifact-Standard veröffentlicht. Heute existieren neben den gängigen Standardformaten wie Edifact, Opentrans, VDA oder SAP-iDoc auch unzählige proprietäre Formate der verschiedenen ERP-Systeme, weshalb EDI meist als aufwendiges Projektgeschäft zur Umsetzung bilateraler Anbindungen zwischen einem Kunden und seinen großen Lieferanten angesehen war.
Vor diesem Hintergrund entstand zusammen mit dem VDMA, dem Forschungsinstitut für Rationalisierung (FIR) an der RWTH Aachen und einem Konsortium aus ERP-Herstellern und Maschinenbauunternehmen der Quasi-Standard myOpenFactory (DIN-PAS 1074). Dieser Standard, der als kleinster gemeinsamer Nenner aus den Standardformaten entwickelt wurde, steht im Zentrum der gleichnamigen EDIPlattform. Heute sind bereits mehr als 800 Firmen an die myOpenFactory-Plattform angeschlossen, darunter nahezu alle relevanten Lieferanten für den Maschinen- und Anlagenbau.
Im Prinzip fungiert das Standardformat als neutrale Datendrehscheibe: Bei der Kommunikation werden die Daten des Absenders zunächst in den myOpenFactory-Standard übertragen. Für den Empfänger werden die Daten aus diesem dann wieder in das jeweils benötigte Datenformat überführt. Auf diese elegante Art und Weise können alle miteinander kommunizieren und benötigen dafür genau eine technische Anbindung, vom eingesetzten ERP-System zur myOpenFactory-Plattform. Dieser erste Schritt zur Schaffung einer automatisierten Transparenz bildet die Grundlage, um eine optimierte, prognosefähige Beschaffung auf Basis einer validen Datenbasis als nächsten Entwicklungsschritt anzugehen.
