Industrie 4.0 ist in der Industrie noch nicht angekommen
Kathariina Röhrig, GFOS GmbH
Prof. Eric Frère, FOM Hochschule in Düsseldorf
Prof. Alexander Zureck, FOM Hochschule in Düsseldorf
Ungeachtet aller Vorteile und Potenziale, die sich durch Industrie 4.0 ergeben, hat Industrie 4.0 bislang nur in begrenztem Umfang Einzug in die Fertigungsindustrie gehalten, wie eine im Jahr 2017 veröffentlichte Studie von Bitkom Research im Auftrag von Ernst & Young belegt. Acht Jahre nach der öffentlichen Bekanntmachung des Themas als Teil der Hightech-Strategie 2020 der Bundesregierung ist der überwiegende Teil der Anwendungen auf Testapplikationen und Pilotprojekte begrenzt.
Zwar sind Industrie-4.0-Technologien und deren Thematik gefragt, und das Interesse in der Fertigungsindustrie ist groß, jedoch wagen den Schritt zur Konkretisierung von Projekten bislang nur wenige Unternehmen. Die Gründe sind so zahlreich wie vielfältig. Finanzierungsaspekte, Fachkräftemangel im IT-Sektor, fehlende Standards und rechtliche Regularien sowie das omnipräsente Thema Security stehen im Fokus der öffentlichen Diskussion.
Bei der Analyse der gesammelten Daten kristallisierten sich insbesondere zwei Faktoren heraus, die der Implementierung von Industrie 4.0 in der deutschen Fertigungsindustrie entgegenstehen und aufeinander einwirken:
● die hohe Komplexität des Konzepts
● psychologische Vorbehalte in der Führungsebene produzierender Unternehmen.
Dem Konzept Industrie 4.0 fehlen umfassende Systemstandards, die zu einem Mangel an Interoperabilität in der Fertigungsindustrie führen. Durch die zunehmende Internationalisierung der Wertschöpfungskette, werden Standards jedoch auch in Zukunft eine große Herausforderung bleiben. Zwar wurde in Zusammenarbeit mit der Plattform Industrie 4.0 durch das Deutsche Institut für Normung ein Standard für das Referenzarchitektur Modell Industrie 4.0 (RAMI 4.0) veröffentlicht. Bislang ist die daraus resultierende Norm DIN SPEC 91345 jedoch noch nicht vollständig international anerkannt, und sie zielt zudem eher auf ein einheitliches Verständnis der Entwicklung Industrie 4.0 mit den beteiligten deutschen Akteuren ab.
Dies bedeutet, dass es derzeitig keine EU-weit einheitlichen oder gar internationalen Systemstandards gibt. Zudem sind viele der bestehenden Anlagen im Maschinenpark deutscher Fertiger derzeitig nicht netzwerkfähig. Eine Nachrüstung ist zwar möglich, jedoch mit enormen Kosten verbunden, sodass die meisten Unternehmen, gerade in Bezug auf die hohe Anzahl an KMU Abstand von Investitionen nehmen. Auch der Austausch des bestehenden Maschinenparks ist in absehbarer Zukunft aus Zeit- und Kostengründen auszuschließen.
Die ganzheitliche, dreidimensionale Vernetzung und der enorme Datentransfer sind zudem mit großen Sicherheitslücken verbunden und führen zu einer allgemein restriktiven Haltung der Unternehmen besonders durch ungeklärte rechtliche Fragen, bei der Sicherung von Know-how und
bei der Freigabe von sensiblen Produktionsdaten. Die geplante Vernetzung der gesamten Wertschöpfungskette basiert ferner auf einer unternehmensübergreifenden Echtzeitdatenübertragung.
Daher ist die Validität der komplexen Daten entscheidend für die Gültigkeit der gesammelten Informationen. Der enorme Fachkräftemangel im Bereich der Informatik und Datenanalyse erschwert jedoch die zielgerichtete Analyse der gesammelten Daten und angewandten Systeme stark. Den Unternehmen fehlt daher eine umfassende Implementierungsstrategie, welche zu einer sicheren und praktikablen Anwendung von Industrie-4.0-Technologien beiträgt.
Das Zusammenspiel der Punkte, hier zusammengefasst als Komplexität, macht sich in erheblichen psychologischen Vorbehalten bemerkbar, die sich in einer generellen Zurückhaltung gegenüber den technischen Anwendungen im Kontext von Industrie 4.0 sowie der Zurückhaltung bei der Bereitstellung sensibler Verarbeitungsdaten für die Vernetzung in der gesamten Wertschöpfungskette darstellen.
Die deutsche Fertigungsindustrie sollte dringend aktiv werden, um den Anschluss an die Weltspitze und seine Position als einer der führenden Fabrikausrüster zu verteidigen. Dies erfordert allerdings ein übergeordnetes unternehmerisches Umdenken und die Bereitschaft zur Entwicklung und Anwendung innovativer Technologien sowie die Öffnung der Unternehmensgrenzen für einen übergeordneten Datentransfer. Es bedarf einer ganzheitlichen Implementierungsstrategie sowie einer Vielzahl qualifizierter Fachkräfte im Bereich IT und Datascience.
Die hohe Komplexität des Konzepts Industrie 4.0 und die Masse an in Echtzeit transferierten Daten wird andernfalls kaum zu bewerkstelligen sein. Ob und in welchem Zeitraum Industrie 4.0 tatsächlich
flächendeckend in der deutschen Fertigungsindustrie Anwendung finden wird, bleibt somit offen, wenn gleichzeitig der überwiegende Teil der befragten Experten davon überzeugt ist, dass die deutsche Fertigungsindustrie die Herausforderungen meistern wird. Festzuhalten bleibt daher, dass der zukünftige Erfolg der deutschen Fertigungsindustrie maßgeblich von der Fähigkeit abhängt, die durch Industrie 4.0 notwendigen Veränderungen der Strukturen und technologischen Prozesse zeitnah zu adaptieren und ins Produktionsumfeld zu integrieren.
